Altenpflege in Deutschland ist komplizierter – Ein Märchen zum Nachdenken

(Die Geschichte vom Mütterchen, das auszog, um das Glück zu finden)

 

Es war einmal ein Mütterchen, sehr alt und hutzelig und gar krank.Es wohnte in Berlin- Kreuzberg und hatte jeden Tag viel Müh und Arbeit.Seine Wohnung war alt und unpraktisch. Im Winter mußte das Mütterchen jeden Tag die Kohlen aus dem Keller aus dem dritten Stock schleppen. Das Einkaufen im Supermarkt war sehr mühselig. Junge Menschen hasteten, eilten und rempelten am Mütterchen vorbei und hatten keine Zeit. Mütterchen kam mit seinem Stock auf der Straße nur langsam voran.

Das Kochen machte keinen Spaß mehr, weil Mütterchen nur für sich allein kochte. Einmal wurde ihm sogar schwindelig in der Küche. Mütterchen fand sich auf dem Fußboden wieder.Es hatte wohl dort geschlafen, wie seltsam.

Verwandte hatte das Mütterchen keine mehr, denn seit Jahren meldete sich niemand. Jeden Tag sprach Mütterchen zu sich selbst: Ach müßte ich doch nicht immer einkaufen. Heizen und saubermachen ist so schwierig. Wie ist das Leben so schwer. Könnte ich nur einmal ausruhen, im Sessel sitzen und das Leben genießen. Dann wäre ich richtig glücklich. Mütterchen sagte sich auch: Aber sterben möchte ich noch lange nicht. Eines Tages zog unser Mütterchen aus. Folgendes war geschehen: Mütterchen hatte endlich den lang ersehnten Platz im Altenheim bekommen. Die Oberschwester sagte bei der Besichtigung:

„…wir möchten unseren Bewohnerinnen ihren Lebensabend schön und geborgen gestalten, möchten Sie umsorgen und Ihnen nach Ihren gesundheitlichen Möglichkeiten weitgehende Selbständigkeit erhalten…“

Unser Mütterchen verstand nicht alles, aber die Zukunft schien sonnig. Das große Glück konnte beginnen.

Die ersten Tage im Altenheim waren herrlich. Mütterchen saß endlich im Sessel und sah zu, wie sein Zimmer gereinigt, frische Wäsche gebracht wurde, sogar Blumen bekam es. Das Zimmer war warm und gemütlich, das Essen schmeckte herrlich und wurde mit vielen Frauen gemeinsam eingenommen. Mütterchen ruhte sich aus und war endlich glücklich.

Hier könnte das Märchen eigentlich zuende sein. Oder wollt Ihr wissen, wie es weitergeht? Nach vielen schönen und müßigen Tagen verspürte unser Mütterchen plötzlich etwas Seltsames: Eigentlich war es satt nach dem reichlichen Essen, es holte sich ja immer noch einen Nachschlag. Aber irgendwie war es hungrig. Es spürte so etwas Leeres im Bauch. Mütterchen klingelte nach der Schwester und fragte, wann es Abendbrot gäbe. Die Schwester war irritiert und in Eile.So antwortete sie nicht so freundlich wie sonst: „Sie haben doch gerade erst gegessen.“

So vergingen wieder einige Tage. Mütterchen hielt es nun nicht mehr so viel in seinem Zimmer aus. Es setzte sich auf einen Stuhl im Gang, wo auch andere Frauen saßen und man sehen konnte, wer vorbeiging.Eines Tages kam dem Mütterchen eine Idee. Es fragte in der Küche nach, ob es etwas helfen könne. Aber das hätte es sich ja eigentlich denken können, daß das streng verboten ist. Mütterchen fand sich danach selbst sehr töricht. Am nächsten Tag setzte sich Mütterchen auf einen Stuhl, der nahe beim Schwesternzimmer stand. Die Schwestern unterhielten sich darin so gemütlich über Kinder, Familie und Mode, all die erfreulichen Dinge, die es draußen gab. Mütterchen beschloß, an der Unterhaltung teilzunehmen, wurde aber streng verwiesen:“ Kommen Sie bitte später wieder, hier ist Dienstbesprechung.“ Mehrmalige Versuche unseres Mütterchens endeten gleichermaßen. Plötzlich hörte Mütterchen, wie ein junger Mann, wohl ein Zivi, sagte:“Die Alte hat einen Schuß.“ Mütterchen erschrak fürchterlich. Es zog sich in sein Zimmer zurück und blieb mehrere Tage bettlägerig. Das Essen schmeckte plötzlich nicht mehr. Am sechsten Tag hatte Mütterchen einen Entschluß gefaßt. Es wollte seine alte Wohnung wiedersehen. Aber es sollte in aller Heimlichkeit geschehen. Mütterchen bereitete sich lange darauf vor, und eines Tages zog es los. Aber wie fürchterlich endete dieser Ausflug. Mütterchen fand sich nicht auf den fremden Straßen zurecht. Es war plötzlich verwirrt. Nur dadurch konnte es geschehen, daß es plötzlich stürzte. Es fand sich mit einem Kopfverband in seinem Zimmer wieder und konnte sich an nichts erinnern.

Die Schwestern waren sehr lieb und anteilnehmend. Sie streichelten es und sprachen zu ihm wie zu einem kleinen Kind. Mütterchen begriff endlich, daß es wohl wirklich einen Schuß hatte. Von jetzt ab hütete sich es sich sehr, irgendwie aufzufallen. Es setzte sich jeden Tag still auf einen Stuhl , so nahe wie möglich beim Schwesternzimmer. Wenn es angesprochen wurde, bemühte es sich, so klug wie möglich zu antworten. Vielleicht lag es an dieser Anstrengung, daß Mütterchen allmählich nicht mehr so gut sprechen konnte wie früher und das Sprechen allmählich ganz einstellte.

In der Pflegedokumentation war zu lesen:

Frau Sorge: Zunehmende Verwirrtheit, apathisch, körperlich sehr abbauend, kein Appetit, wäscht sich nicht mehr selbst, beginnende Inkontinenz.

Unser Mütterchen saß auf seinem Stuhl nahe beim Schwesternzimmer und lächelte jeden freundlich an. Es dachte bei sich: Das wahre Glück habe ich nun doch nicht gefunden. Es wäre gut, wenn ich schon tot wäre. Und wenn es nicht gestorben ist, sitzt es noch heute dort.

Wie alle Märchen ist auch dieses nicht direkt wahr:

Ähnlichkeiten sind rein zufällig.

R. Suhadi

 

Die Größe des Menschen ist groß darin, daß er sein Elend erkennt.

Ein Baum erkennt sein Elend nicht.

 

Blaise Pascal